Erinnerungsarbeit auf dem Engenho Galiléia – “Wir müssen an diese dunkle Vergangenheit erinnern.”

Am Abend des 1. April 1964 gegen 18 Uhr fuhren mehrere Dutzend schwerbewaffneter Soldaten auf das Engenho Galiléia, eine ehemalige Zuckerrohrfarm im Westen Pernambucos. Sie trieben die ansässigen Bauernfamilien zusammen, verhörten sie und begannen, das 500 Hektar große Gelände zu durchkämmen. Die Militärs waren auf der Suche nach den Anführern der sogenannten ligas camponesas, Vereinigungen, die sich zu dieser Zeit für die Rechte von Bauern und Landarbeitern einsetzten. Die erste jener ligas war 1955 im Galiléia gegründet worden.

„Sie standen auf dem Lastwagen, die Gewehre im Anschlag,“ erzählt der damals 17-jährige Zito da Galiléia. „Sie zielten auf uns. Als wären wir im Krieg.“ Einigen Männern gelang es rechtzeitig, in den Wald zu fliehen – so auch Zitos Großvater, Zezé da Galiléia, einem der wichtigsten Sprecher der ligas. Wochenlang belagerten die Soldaten das Gelände. Zuerst versuchten sie, die Versteckten mit Decken und Nahrungsmitteln hervorzulocken. Dann versprachen sie den Familien Sicherheit.

„Soldaten kamen zu meiner Großmutter und sagten ihr, sie solle meinen Großvater rufen, er würde auch nicht verhaftet werden. Sie sagten: ‚Wir wollen ihn nur kurz mit aufs Polizeirevier in Vitória de Santo Antão mitnehmen und bringen ihn dann gleich wieder zurück‘ – Meine Großmutter glaubte ihnen und rief meinen Großvater. Sie brachten ihn in ihren Jeep. Aber wo das Auto nach Vitória de Santo Antão hätte abbiegen müssen, nahmen sie plötzlich die Straße nach Recife.“ Zezé wurde, wie viele andere Männer und Frauen, denen eine Verbindung zu den ligas nachgewiesen wurde, in die Folterzentren der Militärs nach Recife gebracht.

Mit Unterstützung zivil-konservativer Kräfte stürzten die Streitkräfte an jenem 1. April den demokratisch gewählten Präsidenten,  João Goulart, und rissen die Macht in Brasilien an sich. Wichtigstes Ziel waren dabei die Großstädte des Landes, aber auch kleinere mögliche Widerstandszentren wie das Galileia. In Recife, der Hauptstadt Pernambucos, umstellten sie den Regierungssitz mit Panzern, verhafteten den amtierenden Gouverneur Miguel Arraes und gingen mit brutaler Gewalt gegen Studenten und Schülern vor, die sich mit Arraes solidarisierten. (Chico de Assis war bei der Demonstration dabei. Finden Sie hier seinen Bericht auf Portugiesisch.)

Auf der ehemaligen Zuckerrohrfarm, dem Symbol der als „kommunistisch“ und „revolutionär“ geltenden Bauernvereinigungen, erwarteten die Militärs besonders erbitterten Widerstand. Hinzu kamen Gerüchte um ein vergrabenes kubanisches Waffenarsenal. Doch statt der erwarteten Guerrilha trafen die Soldaten auf 140 verängstige Familien, die keine Gegenwehr leisteten. Statt der versteckten Waffen fanden sie Filmmaterial des Regisseurs Eduardo Coutinho, der einen Teil seines Films „Cabra Marcado Para Morrer“ auf dem Galiléia drehte. Trotzdem veröffentlichte das Journal do Commercio einen Tag später das Foto eines Folklore-Festivals in der Stadt Caruarú, deren Bewohner sich traditionell als bacamarteiros verkleiden, Soldaten des 18. Jahrhunderts mit Donnerbüchsen. Die Bildunterschrift lautete: „Armee verhaftet Bewohner von Galiléia mit kubanischen Waffen.“ Mit dieser haltlosen, heute lächerlich anmutenden Diffamierung begann eine neue Verhaftungswelle gegen die Bauern im Galiléia und der Gemeinde Vitória de Santo Antão.

„Wir müssen an diese dunkle Vergangenheit erinnern. Damit die neuen Generationen die Wahrheit darüber erfahren, was damals passiert ist.“ Zito da Galiléia

Zito da Galiléia, mit bürgerlichem Namen José Joaquim da Silva, ist einer der wenigen Zeugen jener Ereignisse. Der 66-Jährige verließ das Gelände 1971 und kehrte erst 2001 zurück. Zusammen mit dem Anthropologen Anacleto Julião sieht Zito heute seine Lebensaufgabe darin, an die Geschichte des Galiléia und insbesondere den Kampf der ligas zu erinnern.

Anacleto ist Direktor des Instituts für spezialisierte technische Unterstützung (portugiesich Instituto de Apoio Técnico Especializado, IATEC), einer NGO, die Logistik für nachhaltige Projekte in den Bereichen Kultur, Bildung, Gesundheit, Umwelt und vor allem Soziales bereitstellt. Ehrenamtlich ist er neben der Erinnerungsarbeit auf dem Galileia Gründer und Vorstandsmitglied der Kinderrechtsorganisation Mirim Brasil.

Die beiden Männer pflegen und erweitern die kleine Bibliothek des Geländes, führen Schüler und Studenten über den historischen Ort und beraten Wissenschaftler und Journalisten wie mich, die zum Thema forschen. Engenho Galiléia in Vitória de Santo Antão

Zito und Anacleto haben sich an diesem Mittwoch einen ganzen Tag Zeit genommen. Ich hole Anacleto in seinem Büro in Recife ab, und wir fahren etwa eine Stunde nach Westen. Immer hügliger wird das Gelände, immer dunkelgrüner und wilder die Vegetation. „Wir müssen hier unbedingt ein Schild aufstellen lassen, damit die Leute uns besser finden“, sagt Anacleto, als wir schließlich in Vitória de Santo Antão die Landstraße verlassen und in eine staubige Sandserpentine einbiegen.

Eine weitere halbe Stunde später sind wir endlich angekommen. Zito empfängt seinen alten Freund und mich sehr herzlich. Wir setzen uns auf die Veranda der Zezé da Galileia-Bibliothek, einem kleinen Flachbau direkt neben Zitos Wohnhaus. An der Mauer hängt eine Schiefertafel auf der in Kreide geschrieben steht: „Wir sprechen über unsere Vergangenheit, um die Basis für unsere Zukunft vorzubereiten.“

Engenho Galiléia in Vitória de Santo Antão

Ich frage Zito nach dem Alltag seiner Familie und der anderen Galiléia-Bewohner in den 1950er Jahren. Überhöhte Pachtabgaben, Zwangsarbeit und brutale „Diszipliniarmaßnahmen“ der Großgrundbesitzer machten den brasilianischen Bauern das Leben damals schwer und trugen maßgeblich zu ihrer Verarmung bei. Die Menschen hungerten, eine angemessene medizinische Versorgung gab es nicht. „Die Frauen bekamen ihre Kinder damals alle zu Hause,“ erzählt Zito. „Viele Mütter und Kinder starben bei der Geburt. Die Babys mussten oft unter dem Torpfosten begraben werden. Und so beschlossen die Familien, einen Verein zu gründen, aus dessen gemeinsamer Kasse eine Hebamme bezahlt werden sollte.“

Die Gründung der ersten liga camponesa

Die ersten geheimen Treffen fanden in der casa da farinha statt, dem Mehldepot. Hier entwickelten die Bauern weitere Ideen und Perspektiven: Sie wollten Särge kaufen können, um ihre Verstorbenen nicht mehr auf dem eigenen Grundstück verscharren zu müssen. Eine Kreditkooperative sollte es möglich machen, auch während der Hungersnöte Lebensmittel zu kaufen. Eine Schule sollte gebaut werden.

Den Galiléia-Familien ging es dabei um friedliche Lösungen für ihre ganz alltäglichen Sorgen und Nöte. Doch Bauern und Landarbeitern in Brasilien war es bis zu diesem Zeitpunkt nicht erlaubt, sich zu organisieren. Arbeitnehmerrechte waren zwar durch die Verfassung garantiert, wurden jedoch auf Druck der vorwiegend landbesitzenden politischen Klasse nur in den großen Städten tatsächlich angewandt und geachtet. Auf dem Land und damit insbesondere im agrargeprägten Nordosten entschied weiterhin die feudale Willkür der Großgrundbesitzer.

casa da farinha

casa da farinha

Die Galiléia-Bauern schrieben einen Brief an den örtlichen Großgrundbesitzer Oscar Arruda Beltrão, und baten ihn, die Vereinsgründung zu erlauben. Sie boten ihm sogar den Ehrenvorsitz ihrer geplanten Gesellschaft für Land- und Viehwirtschaft der Bauern von Pernambuco (port. Sociedade Agrícola e Pecuária de Plantadôres de Pernambuco, SAPPP) an. Beltrão erteilte die Erlaubnis zunächst, zog sie jedoch wieder zurück, nachdem ihn sein Sohn davon überzeugt hatte, dass jede Form der bäuerlichen Selbstorganisation nur seine eigene Position im Galiléia schwächen würde.

Als sie das nachträgliche Verbot nicht akzeptieren wollten, forderte Beltrão die Bauern und ihre Familien auf, das Galiléia umgehend zu verlassen. Sie baten daraufhin Anacletos Vater, den Rechtsanwalt und späteren Abgeordneten Francisco Julião, sie zu vertreten. 1959 gelang es diesem tatsächlich, die Vertreibung abzuwenden und sogar die Enteignung des Galiléia vor Gericht durchzusetzen, so dass der Großteil des Landes den dort ansässigen Familien überschrieben wurde.

Pernambuco vor dem Putsch: Die “kommunistische Gefahr”

Der gerichtliche Erfolg Juliãos war eng verbunden mit den politischen Entwicklungen in Pernambuco. Die Gouverneure Cid Sampaio und Miguel Arraes waren nacheinander mit Unterstützung progressiver linker Kräfte gewählt worden und nahmen deren Vertreter und ihre Positionen in ihre Regierung auf. Sie förderten die Gründung von Gewerkschaften, kommunalen Interessenverbänden und Bauernvereinigungen und unterstützten und initiierten bildungs- und sozialpolitische Projekte, um die Armut im Bundesstaat zu bekämpfen.

Die Enteignung des Galiléia wurde brasilienweit als Pilotprojekt einer neuen Agrarpolitik wahrgenommen. In anderen Gemeinden und Bundesstaaten schöpften die Bauern Hoffnung, und bis 1964 entstanden in ganz Brasilien insgesamt 14 ligas. Aus den kleinen Bauernvereinen mit regionalen Interessen wurde eine Bewegung, die keiner der etablierten politischen Richtungen angehörte und deren Anführer mit Fidel Castro und dem kubanischen Sozialismus sympathisierten. Die Bezeichnung ligas camponesas stammte dabei keineswegs von den Anhängern der Bewegung. Vielmehr assoziierte die konservative Presse die Vereinigungen bewusst mit gleichnamigen verbotenen kommunistischen Gruppierungen der 1940er Jahre und schürte in In- und Ausland die Angst vor einer kommunistischen Revolution im brasilianischen Nordosten. Die Radikalisierung einzelner Ligen, die sogar zu den Waffen riefen, verstärkte diesen Eindruck.

Die Zezé da Galiléia-Bibliothek

Unser Rundgang über das Gelände beginnt in der Zezé da Galiléia-Bibliothek. Von der Veranda betreten wir einen Vorraum, in dem gerahmte Fotos von Anführern und Anführerinnen der ligas camponesas nebeneinander aufgehängt sind. Langsam führt mich Zito von Bild zu Bild. Unter den Portraits hängen sorgfältig in Folie geschützt, alte Flugblätter und Poster. Im Nebenraum befindet sich die Bibliothek: mehrere Bücherregale, dazwischen alte Zeitungsausschnitte, Fotos und andere Dokumente, die von der Gründung der ersten liga camponesa erzählen.

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Zito und Anacleto holen Dokumente und Bücher einzeln hervor, geben sich gegenseitig Leseempfehlungen und versinken beim Anblick der Fotos in Erinnerungen. Immer wieder betonen sie, wie wichtig es ihnen ist, die Erinnerung an all jene wach zu halten, die im Kampf um die Rechte der Bauern verfolgt, gefoltert oder ermordet wurden. Zitos Familie war in den Kampf der ligas stark involviert. Sie traf die Repression der Militärs besonders hart.

Zitos Großvater, Zezé da Galiléia, wurde nach seiner Verhaftung erst nach Recife und dann ins Gefängnis nach Olinda gebracht. „Es gab nur Brot, ohne Wasser. Aber der Abfluß am Boden seiner Zelle war kaputt. Er musste sich auf den Boden legen und sich das Abwasser mit der Hand nach oben in den Mund schaufeln, um überhaupt etwas zu trinken.“ Nach sechs Monaten erlitt Zezé einen Schlaganfall und wurde aus der Haft entlassen. Seitdem konnte er nicht mehr sprechen. „Er kehrte ins Galiléia zurück, doch so sehr wir uns auch bemühten, es gelang uns nicht, ihn wieder aufzurichten. 1969 ist er gestorben.“

Zitos Onkel João Virgínio hatte schon vor dem Putsch keinen Hehl aus seiner Begeisterung für Kuba und Fidel Castro gemacht. Das wurde ihm nun zum Verhängnis. Die Militärs verschleppten ihn nach Recife und misshandelten und folterten ihn mit Elektroschocks. Sie hängten ihn kopfüber in Hockstellung an eine Stange („pau de arara“) und gaben ihm gleichzeitig Schläge auf beide Ohren („telefone“). „Sie steckten ihn in eine Tonne mit Fäkalien, im Keller der Kaserne. Er verbrachte 24 Stunden darin, Fäkalien bis zur Taille. Ohne, dass er sich irgendwo festhalten konnte, 24 Stunden im Stehen. – Dann ließen sie ihn frei, und er kam nach Galiléia zurück.“ Bereits einen Tag nach seiner Rückkehr holte die Polizei João Virgínio erneut ab und brachte ihn nach Recife ins Gefängnis, wo er sechs Jahre saß.

„Bei uns zu Hause lag der Wunsch Brasilien zu verändern und für die Menschenrechte zu kämpfen quasi in der Luft.“ Anacleto Julião

Auch Anacletos Vater, Francisco Julião, war von den Repressionen der Militärs betroffen. Innerhalb kürzester Zeit war er zu einem der wichtigsten Sprecher und Unterstützer der ligas camponesas geworden. „Wenn ich nach Hause kam,“ erzählt Anacleto „saßen da Hunderte Bauern in unserem Haus, im Hof, auf der Terrasse und warteten geduldig, bis sie mit meinem Vater sprechen konnten. Meine Mutter verarztete ihre Wunden von den Folterungen und Quälereien der Großgrundbesitzer.“ Julião wurde 1964 festgenommen und inhaftiert. Nach seiner Freilassung 1965 ging er ins Exil nach Mexiko und konnte erst mit dem Amnestiegesetz 1979 in seine Heimat zurückkehren.

Francisco Julião

Francisco Julião

„Ich glaube, ich bin schon seit meiner Kindheit politischer Aktivist,“ sagt Anacleto lachend, als wir vor dem Portrait seines Vaters stehen. „Meine Familie ließ mir gar keine andere Wahl.“ Das Verhältnis zu Francisco gestaltete sich jedoch schwierig. “Ich muss die Figur des Anführers von der meines Vaters trennen. Als politischer Führer kenne ich niemanden, der sich so hingegeben hat. Er war ein Idealist, intelligent und ein großartiger Redner und Schriftsteller. (…) Doch als Vater war er abwesend, und wir verdanken den Großteil unserer Erziehung unserer Mutter. Sie sagte immer “Francisco, kümmere Dich doch mal ein bißchen um die Kinder!’ und er antwortete ‘Ich muss mich um Millionen Bauernkinder kümmern.’”

Für Juliãos politische Aktivitäten zahlte die Familie einen hohen Preis. 1962 schließlich, nach massiven Morddrohungen und mehreren Attentaten, ging seine damalige Frau, die Frauenrechtlerin Alexina Lins Crêspo de Paula, mit den vier Kindern nach Kuba, wo ihnen Fidel Castro, ein Freund der Familie, Schutz angeboten hatte.

Francisco Julião and Alexina Lins with friend Fidel Castro (m.)

Francisco Julião and Alexina Lins with friend Fidel Castro (m.)

Mit dem Putsch in Brasilien gab es für sie vorerst kein Zurück. 1970 zog Alexina mit den drei jüngeren Kindern nach Chile weiter. Viele linkspolitische Führer und ihre Familien wähnten sich bei der Allende-Regierung in Sicherheit vor den autokratischen Militärregierungen in den anderen Ländern Südamerikas. Doch beim blutigen Putsch am 11. September 1971 saßen sie in der Falle. Alexina und die Kinder flohen vor den Säuberungen Pinochets nach Schweden.

Anacleto verbrachte insgesamt 18 Jahre im Exil – bis zum Amnestiegesetz 1979. “Politisches Exil ist ewig,”, sagt er schwermütig, als ich ihn einige Tage später zu seiner Familiengeschichte interviewe. “Es hört nicht auf, wenn Du zurückkommst, denn Du triffst nicht mehr auf den gleichen Ort, den Du zurück gelassen hast. Entwurzelt, musst Du Dich wiedererkennen an einem Ort, der sich verändert hat, den Du nicht mehr wiedererkennst.“

Der Traum von der Gedenkstätte

Die Zezé da Galileia-Bibliothek ist jedoch nur ein, wenn auch wichtiger, Teil des Traums, den Zito und Anacleto seit Jahrzehnten teilen und vorbereiten: der Bau einer Gedenkstätte für die ligas camponesas und Francisco Julião. „Dieser Ort hat eine große historische Bedeutung für die Landlosenbewegung und für die Agrarreform. Nicht nur in unserem Bundesland, sondern in ganz Brasilien,“ begründet Anacleto die Initiative, während wir die Bibliothek verlassen. “Die Gedenkstätte soll über einen wichtigen Teil der brasilianischen Geschichte  aufklären.” Neben der Bibliothek sollen unter anderem ein Auditorium entstehen, mit Raum für Konferenzen und Studienplätzen.

Engenho Galiléia in Vitória de Santo Antão

Wir laufen weiter über das Gelände. und bleiben schließlich vor einem steinernen Schuppen stehen. „Jetzt kommen wir zu einem Geschenk von Präsident Kennedy“, sagt Zito geheimnisvoll. Ich folge ihm in den kleinen kahlen Raum, in dessen Mitte einsam ein Generator aus den 1960er Jahren steht. Das hellgrüne Ungetüm sieht mit Ausnahme kleinerer Rostspuren wie neu aus – „lebendige“ Vergangenheit. Die Angst vor einem Aufstand der armen Bauern im Nordosten Brasiliens, einer kommunistischen Revolution, hatte zu Zeiten des Kalten Krieges auch die USA ergriffen. Und nachdem in der amerikanischen Presse einige Artikel über die Bauern des Galiléia erschienen waren, hatte Präsident John F. Kennedy 1961 seinen Bruder, Senator Edward Kennedy, persönlich vorbeigeschickt, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Dieser sprach mit den Familien, ließ sich von Zezé über das Gelände führen und fragte dabei, was die Bauern eigentlich am dringendsten benötigen würden. „Elektrizität,“, antworteten diese, und wenige Wochen später schickte Kennedy ihnen einen dieselbetriebenen Generator. “Das Geschenk war zwar nett gemeint. Und wir nutzen es auch eine ganz kurze Zeit für Zezés Haus und eine kleine Schule ,” erinnert sich Zito. “Aber leider hatten wir kein Geld für Stromleitungen, die den Strom in die Häuser gebracht hätten.“

In der casa da farinha, wo sich die Galiléia-Bauern einst versammelten, steht seit April 2013 ein provisorisches Mahnmal. An diesem Ort wird das Denkmal für die ligas camponesas in Brasilien und Francisco Julião aufgestellt, steht auf einer Plakette. „Und weil es die Plakette gibt, müssen wir es jetzt eben auch wirklich mal irgendwann errichten,“ sagt Anacleto und zwinkert mir verschwörerisch zu. „Da gibt es kein Zurück mehr. Eines Tages schaffen wir das.“

Der Tonfall der beiden Männer ist optimistisch und ohne Bitterkeit und lässt die tatsächliche Problematik kaum erahnen. Vor dem Hintergrund, dass der brasilianische Staat das Erinnerungsprojekt auf dem Galiléia weder finanziell noch personell unterstützt, dass staatliche und regionale Wahrheitskommissionen die Aufarbeitung der Verbrechen gegen die ligas camponesas und die Bauern und Landarbeiter im Allgemeinen vernachlässigen bzw. vor der schwierigen Quellenlage kapitulieren, scheinen Initiativen einzelner Aktivisten wie Zito und Anacleto die einzige Hoffnung, die Erinnerung an die ligas und das Leid der Bauern während der Diktatur für die zukünftigen Generationen zu bewahren.

Und dabei wäre die Aufarbeitung der Diktaturverbrechen auf dem Land entscheidend für das Entwickeln eines vollständigen und wahrhaftigen Geschichtsbildes dieser Zeit. Die Unterstützung der Militärs durch die Großgrundbesitzer und andere zivile Personengruppen und Institutionen macht es heute unmöglich, die Verantwortung für den Putsch und die Verbrechen der Diktatur einzig den Militärs zuzuschieben. Denn wo der Einmarsch der Militärs im Galiléia einzig der Symbolkraft des Ortes zuzuschreiben war, verließen sie sich in den meisten anderen ländlichen Gemeinden auf die Großgrund- und Plantagenbesitzer, die eine Rückkehr zurDiktatur begrüßten und den Putsch für ihre persönlichen Säuberungen nutzten. Sie schickten ihre capangas, bezahlte Milizen, die viele Bauernfamilien bedrohten und vertrieben und insbesondere die Mitglieder und Anführer der ligas folterten und ermordeten.

Zudem konzentriert sich die staatliche Wahrheitsfindung und Entschädigung derzeit vor allem auf jene, die aus politischen Gründen verfolgt wurden. Eine solche Verfolgung nachzuweisen, ist für ehemaligen Mitglieder der ligas und ihre Hinterbliebenen so gut wie unmöglich. Während die Militärs ihre Gräuel zumindest in ihren Akten dokumentierten, gibt es für die Verbrechen der capangas keine schriftlichen Quellen und dementsprechend bis heute keine genauen Zahlen. Mündliche Quellen und Zeugnisse, die aufwendiger zu bearbeiten sind, aber Aufschluss geben würden, werden kaum ausgewertet. Die Nichtregierungsorganisation Mirim Brasil zählte 1200-1400 Namen getöteter Bauern und Landarbeiter, die tatsächlichen Zahlen gehen wahrscheinlich in die Tausende.

Und nicht zuletzt würde die lückenlose Aufklärung und Verurteilung dieser Diktaturverbrechen Land helfen, jene Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, die im Rahmen aktueller Landkonflikte in vielen Regionen Brasiliens nach wie vor an der Tagesordnung sind.

Wenn Anacleto und Zito von ihren Plänen für das Galiléia sprechen, ist von mangelnder Unterstützung jedoch nicht die Rede. Vielmehr klingt es, als wäre alles nur eine Frage des „Wollens“ und der Zeit, als müssten ausgerechnet die beiden Aktivisten das Ganze einfach mal richtig in die Hand nehmen. „Vielleicht werden erst unsere Enkel die Gedenkstätte bauen, aber eines Tages wird es sie geben,“ sagt Anacleto und lächelt siegessicher. Und während hunderte Meter entfernt, in einem der Bauernhäuser, plötzlich laute Forró-Musik aus einem Lautsprecher plärrt, schlendern wir über einen staubigen Sandweg zurück zu Zitos Haus und essen Tapioca.

Engenho Galiléia in Vitória de Santo Antão

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