Das kleine rot-weiße Häuschen auf der Rua Carneiro Vinela wirkt im Hochhäusermeer der Millionenstadt Recife ungewohnt idyllisch. Während sich in 50 Metern Entfernung hupende Autos auf der mehrspurigen Rua Conselheiro Portela stauen, ist hier nichts zu hören außer Vogelgezwitscher. Edival Nunes Cajá, der Direktor des Kulturzentrums Manoel Lisboa (Centro Cultural Manoel Lisboa), empfängt mich an der Gartenpforte und führt mich durch den kleinen gepflegten Vorgarten ins Haus.
Die Wände des zweistöckigen Hauses sind mit Fotos und Bildern zugehängt. Neben einer Fotoausstellung zu Che Guevara sind riesige Ölgemälde mit den Anführern des kommunistischen Widerstands in Brasilien platziert. Plakate fordern Aufklärung und Aufarbeitung der Diktaturverbrechen. Und überall dazwischen hängen, sorgfältig verschachtelt, Obduktions- und Polizeifotos ermordeter Widerstandskämpfer. Die Folterspuren sind oft noch deutlich zu erkennen. „Es sind die letzten Fotos, die wir von ihnen haben“, sagt Cajá sanft, während er mich von Bild zu Bild führt. Der 63jährige Soziologe war in den 70er Jahren einer der wichtigsten Führer der pernambucanischen Studentenbewegung und wurde von den Militärs inhaftiert und schwer gefoltert. Aufgrund seiner Geschichte und als Vertreter des Kulturzentrums ist er zudem Mitglied im Comitê Memória, Verdade e Justiça von Pernambuco aktiv
Wir führen das Interview in einem der drei winzigen Räumen im Erdgeschoss. Auf sechs Quadratmetern, zwischen Bücherregalen und Archivschränken, beginnt Cajá zu erzählen. Das Kulturzentrum Manoel Lisboa ist 1995 von ihm und anderen ehemaligen Widerstandskämpfern gegründet worden, um die Wahrheit über die Verbrechen der Militärs an die Öffentlichkeit zu bringen und das Andenken an ermordete und „verschwundene“ Freunde und Kameraden zu bewahren. Wichtiger Teil dieser Arbeit war und ist die Lokalisierung der sterblichen Überreste von „Verschwundenen“ und ihr Begräbnis. Dies gelang ihnen erstmals mit der Rückführung des toten Manoel Lisboa.
Der Gründer der Kommunistischen Revolutionären Partei (portugiesisch Partido Comunista Revolucionário, PCR) war am 16. August 1973 in Recife von Agenten des Repressionsapparates verhaftet und ins DOI-CODI gebracht worden. Die Agenten verhörten und misshandelten Manoel Lisboa brutal, folterten ihn unter anderem mit der so genannten „Papageienschaukel“ und gaben ihm Elektroschocks in Hände und Füße, Ohren und Genitalien. Mitgefangene berichten, dass er schon nach wenigen Tagen seine Beine nicht mehr fühlte und sich weder bewegen noch Essen zu sich nehmen konnte. Am 5. September meldeten die Zeitungen von Recife, dass die beiden Terroristen Manoel Lisboa und Emmanuel Bezerra dos Santos bei einem Schusswechsel mit Organen der inneren Sicherheit getötet worden seien. Beide wurden für tot erklärt, ihre Leichen blieben jedoch verschwunden. Erst 2003 konnten die sterblichen Überreste der beiden Männer aus einem Massengrab in São Paulo geborgen werden.
Das Kulturzentrum sammelte jahrelang Indizien und Beweise über den Verbleib der Leiche Lisboas, ließ ihn exhumieren und nach Pernambuco zu überführen. Doch der Fall ist nur einer von wenigen, die bislang aufgeklärt werden konnten. Die gängige Praxis der Militärs, den Tod ihrer Folteropfer öffentlichkeitswirksam zu inszenieren und eine Geschichte zu konstruieren, die in der Regel mit einem Unfall, dem Selbstmord des Betreffenden oder einer Schießerei endete, erschwert es Menschenrechtlern und Angehörigen auch heute noch, herauszufinden, wo und wann jemand getötet wurde und wohin seine Leiche verschleppt.
„Die Täter sind sich sicher, dass sie mit dem ‚Verschwindenlassen‘ der sterblichen Überreste auch die Geschichte dieser Menschen begraben konnten, aber das Gegenteil ist der Fall“, sagt Cajá optimistisch. „Manoel Lisboa war ein erster Erfolg. Wir hoffen, alle unserer ‘verschwundenen’ Kameraden finden und beerdigen zu können.“
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