„Hattet Ihr keine Angst? – Schulprojekt in Carpina

Ungewöhnlich pünktlich versammeln sich die Schüler der Technischen Schule Maria Eduarda Ramos de Barros an diesem Vormittag in ihrem Auditorium. Es ist bereits 10 Uhr und für den Nachmittag ist eine Prüfung angesetzt, für die es noch einiges vorzubereiten gibt. Die Ferien beginnen 2014 wegen der Fußball-WM mehrere Wochen früher als sonst und entsprechend werden auch die Endjahresprüfungen vorverlegt.

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Hektisch strömen die Schüler in den Saal und lassen sich auf die Stühle fallen. An den Wänden rechts und links sind, gleichmäßig verteilt, 30 Plakatwände aufgestellt, die mit Fotos, Texten und Zeitzeugen-Zitaten an die Repressionen und die Gewalt in der Zeit der Militärdiktatur erinnern. Die Ausstellung ist zwei Wochen zuvor in der Schule aufgestellt worden. 14 Tage haben die Schüler Zeit gehabt, um sich mit ihren Geschichtslehrern in das Thema zu vertiefen.

Am Podium sitzen Irageu Fonseca und Alberto Vinicius vom Sekretariat für Menschenrechte in Pernambuco und  Chico de Assis und Amparo Almeida Araújo. Beide waren während der Militärdiktatur in linken Widerstandsgruppen aktiv. 

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Würdet Ihr heute wieder so handeln?

Nach einigen einleitenden Sätzen des Geschichtslehrers beginnt die Diskussion. „Wie wurdet Ihr gefoltert? Wie seid Ihr an Geld gekommen? Und woran habt Ihr geglaubt?“, fragen die 14-17 Jahre alten Jugendlichen als erstes. Wortreich und detailliert schildert Chico de Assis daraufhin den Alltag im Widerstand, die Einsamkeit ohne Kontakt zu Freunden und Familie, den Glauben an die Revolution. „Würdet Ihr heute wieder so handeln?“ ruft ein Junge von hinten und ohne zu Zögern antworten Chico de Assis und Amparo Araújo unisono: „Ja, auf jeden Fall“.

„Hattest Du keine Angst?“ Caroline, die in der zweiten Reihe direkt vorm Podium sitzt, sieht Amparo Araújo an. „Ja, die hatte ich“, antwortet diese. Für einen kurzen Moment wird es mucksmäuschenstill im Saal. Dann fährt die 64-Jährige fort: „Wir hatten alle Angst. Ich war 14 als ich in den bewaffneten Widerstand ging. Aber meine Überzeugung ließ keine andere Entscheidung zu.“ Und sie fügt lächelnd hinzu: „Außerdem spielten meine Hormone damals genauso verrückt wie Eure heute.“

Ein Mädchen fragt leise, ob denn die Frauen anders gefoltert wurden als die Männer. Chico de Assis ergreift das Wort. Er redet sich in Rage, erzählt von Vergewaltigungen und anderer Gewalt gegen Kameradinnen im Widerstand. Amparo Araújo ergänzt. „Der Körper einer Frau wurde in dieser Zeit zur Trophäe, wie es oft in Kriegszeiten geschieht. Er wurde als Symbol für die Schändung und Erniedrigung der Ideale und Gruppen missbraucht, für die sie standen.“

Schließlich will jemand wissen, ob die ehemaligen Widerstandskämpfer glauben würden, dass die „Jugend von heute“ gegen eine drohende Diktatur auf die Straße gehen würde. Einhelliges Kopfschütteln und ein resigniertes „Nein“– bei den Schülern. Unter Verweis auf die Sozialen Proteste von 2013 sagt Chico de Assis, „Die Jugend von heute rebelliert und hat die Kraft zu rebellieren. Insbesondere mithilfe der neuen Medien, der Sozialen Netzwerke.“ Da nicken viele der Schüler und als der ehemalige Widerständler sie einläd, sich mit ihm auf Facebook zu befreunden, jubelt der Saal.

Was denkst Du eigentlich über die Nazis?

Auch als mich der 17-jährige Carlos fragt, was ich eigentlich über die Nazis denke, kommt im Saal tobender Beifall auf. Als hätten die Schüler nur darauf gewartet, dass jemand eine solche Frage stellt. Ich erzähle von den Nürnberger Prozessen und von der 68er-Generation, die das Leben und Handeln ihrer Eltern während der Nazi-Zeit hinterfragte, von Filmen und Geschichtsstunden meiner Schulzeit und den Gedenkstätten in Berlin. Und schließlich lade ich die Jugendlichen ein, Deutschland einfach mal zu besuchen und zu entdecken, was sich seit der 1945 verändert hat.

Während und nach der Veranstaltung kommen noch viele Jugendliche auf mich zu. Fragen, was man „von außen“ über die Aufarbeitung in Brasilien denkt und ob das Gesundheits- und Sozialsystem in Deutschland tatsächlich so viel besser als das brasilianische wäre. Sie erzählen mir von den Schwierigkeiten in ihrem Alltag und dem ihrer Familien, und vor allem von ihrem Traum, mit einem guten Schulabschluss an die Uni gehen zu können.

Das Projekt des Sekretariats für Menschenrechte

Die Technische Schule Maria Eduarda Ramos de Barros in Carpina ist eine von 20 öffentlichen Schulen in Pernambuco, die das Sekretariat für soziale Entwicklung und Menschenrechte (portugiesisch: Secretaria Estadual de Desenvolvimento Social e Direitos Humanos) seit dem Beginn des Projekts 2013 besucht hat.

Die Ausstellung “Amnestie und Demokratie” bleibt je zwei Wochen in einer Schule. In dieser Zeit bearbeiten die Schüler das Thema im Unterricht und können abhängig vom Lehrplan auch eigene Projekte entwickeln. Danach gibt es eine Abschlussveranstaltung mit Gesprächsrunden, zu denen Experten und ehemalige politische Gefangene und Verfolgte aus Pernambuco eingeladen werden. Oft wird versucht, ehemalige Widerstandskämpfer aus dem Einzugsgebiet der Schule zu gewinnen.

Irageu Fonseca, Referent für das Recht auf politische Erinnerung im Sekretariat und Alberto Vinicius, Projektkoordinator des Sekretariats und ehemaliger politischer Gefangener begleiten sowohl die Einführungs- als auch die Abschlussveranstaltung und betreuen Schüler und Zeitzeugen. Ihre Arbeit wird vom Sekretariat finanziert. Chico de Assis, Amparo Almeida Araújo und die anderen Zeitzeugen begleiten das Projekt ehrenamtlich und tragen auch sämtliche anfallenden Kosten wie Benzin, Unterkunft und Verpflegung selbst.

Perspektivisch soll das Sekretariat für Bildung damit beauftragt werden, ein Konzept zu erstellen, auf dessen Grundlage Lehrer und Schulen das Projekt eigenständig planen und realisieren können.

2 thoughts on “„Hattet Ihr keine Angst? – Schulprojekt in Carpina

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